Immer wenn ich samstags auf dem Goldbekmarkt meinen Lieblings-Obst- und Gemüsebauern aufsuche, baut sich vor meinem geistigen Auge das Bild eines regionalen Landwirtes auf, der irgendwo in den Hamburger Provinzen wie Pinneberg, Klein Flottbek oder Blankenese auf seinen landwirtschaftlichen Feldern, die bereits vom Vater, dem Vater des Vaters und anderen Vorvätern bestellt, gehegt und beerntet worden sind.
Rund um sein Agrarwesen hört man es seit Jahrhunderten glücklich gackern, fröhlich grunzen und behaglich wiederkäuen. Zugegeben, nach 25 Jahren in der Werbung, könnte ich durchaus auch Opfer meiner eigenen Klischees und Wunschbilder geworden sein. Trotzdem vermittelt mir mein Lieblingsbauer genau diesen Eindruck.
Da ich selten nach Einkaufszettel sondern fast immer spontan und nach Gusto einkaufe, frage ich meinen Lieblingsbauern, wie gewohnt, ob er mir noch irgendwas persönlich empfehlen könnte? Und er konnte: nämlich wunderbare große, süße, knackige Kirschen, die ich auch gleich probieren sollte. Kaum befand sich die erste Kirsche im Verköstigungsprozess, vermeldet mein geistiges Auge erneut äußerst intensive Regungen:
Wieder sehe ich meinen sehr, sehr kernigen Lieblingsbauern. In Pinneberg, Klein Flottbek, Blankenese o. ä. In einem prächtigen Kirschbaumgehege, wie er bei strahlendem Sonnenschein auf einer wunderbar langen Leiter Kirschen pflückt und seine Ernte in leinengepolsterten Körbchen an einer naturbelassenen, ökologisch unbedenklichen Schnur hinab zu seiner ebenfalls gut gepolsterten, sehr, sehr ansehnlichen Bauersfrau läßt. Federnden Schrittes befördert die Bäuerin die Kirschkörbchen dann ins Bio-Erdkühle-Depot, wo die Kirschen bis zu ihrer Präsentation auf dem Goldbekmarkt sich in ihrem geschmacks- und form-vollendeten Reifeprozess befinden werden.
Schnitt zurück vom geistigen zum tatsächlichen Auge.
Denn dann passiert etwas völlig Unvorhergesehenes: Mein Lieblings-Obst- und Gemüsebauer lässt mich wissen, dass das leckere Kirschen aus der Türkei wären. Wie? – aus der Türkei? Ich will doch keine pressezensierten, unterdrückten, menschenrechtsverletzten Kurdenkinderarbeits-Kirschen! – die womöglich alle Schnauzbart tragen…
Ich sehe den Aufseher Erdogan in Uniform mit Schirmmütze und Sonnenbrille wie er mit einem Heckler und Koch Schnellfeuergewehr ein paar Salven in die Luft jagt, um daran zu erinnern, dass mit ihm und deutschen Rüstungs-Exporten nicht gut Kirschen essen ist.
Weiter sehe ich Merkel mit Erdogan, die sich auf einem Diwan lungernd gegenseitig mit Kirschen füttern. Süß anzuschauen, aber nee, ich will keine bitteren Despotenkirschen. Ich will Pinneberger, Klein Flottbeker, Blankeneser Kirschen.
Gekauft hab’ ich die Kirschen vom Bosporus dann doch. Man kann sie sich ja, wie andere Auswüchse des Lebens auch schönreden oder wenigstens auf seinem Blog schöntexten. Trotzdem werde ich meinen Lieblings-Bauern bitten, ob er nicht meinem und bestimmt vieler anderer einheimischer Wunschbilder gerecht werden – und für eine Handvoll Cent mehr wieder das vorteilhafte Gefühl von Ernten aus unserer regionalen Agrar- und auch sonstiger Kultur anbieten kann.
Sam Lazay, lebalcony
Schöne Bilder, Sam!
Und eine Realität, die man sich wohl nur noch mit schönen Bildern schönreden kann.
Aber geschmeckt haben die Kirschen, oder?
Ja, die Kirschen haben vorzüglich geschmeckt, Bettina. Um so mehr da ich meinem Barcelonäschen (nicht nur du hast eine formvollendete Nase), die mich am Wochenende besuchte, einen lecker Frühstücksquark daraus gezaubert habe. Trotzdem hätten sie mir noch besser geschmeckt, wenn sie aus einem heimischen Garten gekommen wären. Und nicht per schwerölverpestendem Container-Dampfer aus einem Kinderarbeitsland rund um die viertel Welt verschifft worden wären.