Ein Gesellschaftsmodell, aus dem wir lernen können. Hier das Video über Zusammenhalt, Vertrauen, Souveränität und Bammel vor dem Muffensausen.

Die katalanische Tradition, immer höhere Türme aus menschlichen Bausteinen zu errichten, gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert. Vor den Toren Barcelonas im verträumten Dorf Valls kamen die Bewohner auf die Idee, aus ihren Körpern Türme zu bauen. Und weil ihnen das so viel Spaß machte und es in der Natur des Menschen liegt, gerne hoch hinaus zu wollen, sprach sich das auch in anderen Dörfern rum. Also entwickelten sich Wettstreite, um sich gegenseitig zu überbieten.

Wobei nicht nur die Höhe bzw. Performance im Vordergrund steht, sondern auch ein fundamentaler Spirit: „Gemeinsam sind wir stärker!“ Und: „Jeder sollte seine Talente im Dienste der Gemeinschaft einsetzen!“ Türmen bedeutet im Katalanischen also nicht, sich aus der Verantwortung schleichen, wenn’s mal wackelig oder unruhig wird, sondern mit seinen Qualitäten für die gemeinsame Sache kollegial gerade stehen.

Das heißt: Wenn du extra-stämmig bist, so breite Füße wie Schultern hast, solltest du nicht als Funkenmariechen ganz oben rumturnen. Sondern es besser als tragende Säule versuchen.

Umgekehrt genauso: Wenn du klein, klettergewandt und von wenig träger Masse bist, solltest du nicht so tun, als ob du zehn Mann auf deinen Schultern tragen könntest. Beuys sagt, jeder ist ein Künstler. Castellers sagen: Die Kunst ist, wenn jeder um seine Talente und Aufgaben weiß.

Für ein optimiertes Gesellschaftsmodell stünde das Fundament symbolisch für die Grundsicherung der sozialen Gegebenheiten: Bildung, Gerechtigkeit, Gesundheit, Kultur, Chancen. Und das für alle. Nächste Etage: öffentliche Dienste, Energie-, Wasser-, Informations-Versorgung. Gefolgt von soliden, verantwortungsvollen Groß-Unternehmen. Darauf aufbauend: ein gesunder Mittelstand. Weiter ginge es mit unverzichtbaren selbstständigen Dienstleistern (von denen viele auf Grund besonderer Talente schon ganz automatisch Verantwortung für andere übernehmen). Und on top: Künstler in allen ihren Spezialdisziplinen: Bühne, Leinwand, Design, Jodel, Trapez usw…

Wenn alle miteinander harmonieren, aufeinander aufbauen, mit Querverbindungen vernetzt sind und sich gegenseitig zu wertschätzen wissen, wäre eine Gesellschaft höchster Stabilität, Effizienz und Lebensqualität geschaffen. Wäre. Wären da nicht die Störenfriede, Demagogen, Egomanen, Pyromanen, Kleptomanen. Aber man könnte sich in Zweifelsfällen ja zumindest mal am Castellers-Modell orientieren.

Wichtigster Wert im Sinne einer optimalen Gesellschaftsform wäre für mich die Bildung. Was nicht heißt, nur Mathematik, BWL und Faust zitieren zu können.

Bildung sollte vor allem heißen, denken zu lernen. Und zu können. Denken, verstehen, entscheiden – ob das wohl gut ist oder eher nicht. Ob das eine langfristige Problembewältigung ist oder nur ein kurzfristiges Strohfeuer. Ob Gewalt mit Gegengewalt beantwortet werden muss. Oder ob es nicht besser wäre, miteinander zu reden.

Ob es nicht besser wäre kreative, unkonventionelle Lösungsformen zu entwickeln? Klar, geht das nicht immer. Schon allein deswegen nicht, weil man nicht immer genau weiß, in welchem Schlamassel sein Gegenüber bereits steckt? Wie schlimm der Frust schon an dessen Ego nagt? Ob die sexuelle Notstands-Depression beklemmt? Oder religiöser Fanatismus die Birne versulzt? Miteinander reden und schon im Vorfeld möglicher aufkommender Probleme entsprechende Lösungen parat zu haben, ist ein Bildungs-Konzept, das auch die Castellers ganz wunderbar beherrschen.

Man beachte in dem Video als der kleine Junge links plötzlich auf halber Höhe Schiss bekommt und abbricht, obwohl der kleine Junge rechts schon ganz oben ist. Wie automatisch bricht auch der Kleine ganz oben ab, macht sich auf den Weg nach unten und mit ihm alle anderen auch. Ganz nach der Devise: wenn einer im System nicht funktioniert, kann das Ganze nicht klappen. Da können selbst Individual-Kapriolen nicht mehr helfen. Da muss einfach fürs nächste Mal gezielt und individuell nachgebessert werden. Bei Castellers scheint das durch kluges Coaching jeder Einzelne verinnerlicht zu haben. Und dass es trotz Abbruches Applaus für die Darbietung gab, spricht ebenfalls für Größe, Stil und Souveränität. Bildung wirkt.

Barcelona. La Villa de Gracia. August 2018. Kamera, Ton: Bea Kiwitt.

Man stelle sich vor, das wäre in einer handelsüblichen Werbeagentur passiert: Man würde ob des personellen Abgangs erstmal tagelang sinnieren, ganz viel Meetings einberufen, alle würden durcheinander reden, die eine Hälfte wäre beleidigt, die andere will sowieso schon längst was anderes machen. Zwischenzeitlich wäre der Turm längst zusammengekracht. Und der Agenturchef gäbe per Mobilphone die Order, die Schuld beim Kunden zu finden, der sowieso keine Ahnung hat und eigentlich nur die Meetings stört.

Daher ist es doch eine mehr als löbliche Geste, dass der katalanische Menschenturmbau im November 2010 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Heute, September 2018 möchte lebalcony das Castellers-Modell ebenfalls für jegliche Form menschlicher Zusammenarbeit anregen und Mut zum konstruktiven Gemeinsinn machen!

Höchster jemals gebauter Menschenturm hatte übrigens zehn Etagen. Gelungen ist diese aberwitzige Darbietung bisher allerdings nur zwei mal: 15. November 1998 von den Minyons de Terrassa und am 22. November 1998 von den Castellers de Vilafranca. Beide Barcelona. Wenn jemand Lust hat, mit elf Stockwerken einen neuen Weltrekord aufzustellen – also ich wär’ dabei!

Hasta luego, compañeros,

Sam Lazay, lebalcony