Neu! Mit aktualisiertem Anhang vom 06.04.2020

 

Der Weg mag hart und beschwerlich sein, das konkrete Ziel noch nicht ersichtlich. Doch lebalcony.de, die Orientierungshilfe für coole Typen und Stories aus Winterhude bis darüber hinaus, will in den schwierigen Zeiten einen verheißungsvollen Blick auf die Welt der Tourenskialpinisten werfen. Die Erfahrensten jener Spezies wissen:

Der Gipfel ist nie das Ziel. Eigentliches Ziel ist immer der Wiederaufbruch, der Neustart, das Glück der Beschleunigung in neue Glücksgefühle wieder zurück zur Basis. Und zwischendrin der Genuss, unbekannte, unendlich lange Abhänge gleich unbeschriebenen Blättern weißen Papiers, mit beherzten und gekonnten Schwüngen zu prägen. Deinen Schwüngen. Jedes Neuland wird sich freuen, von dir neu entdeckt zu werden. Du kannst dem Leben deine unverwechselbare Signatur verleihen. Das sollte Anspruch und Chance jedes Dilemmas sein.

Tourenskifahrer sind kernige Typen. Mit einem siebten Sinn für die Natur. Wie hier von Freund Gebhard eindrucksvoll dokumentiert. Slogan: hart, härter, Gebhard. Warmduscher sind da leider ausgenommen. Tourenski heißt, Aug’ in Aug’ mit den Gewalten der Schöpfung. Die überwältigende Ruhe der Berge. Endlos idyllische Abgeschiedenheit. Unberührter Pulverschnee. In der Tiefe grenzenlos weißen Raums.

Hin und wieder ein kreisender Steinadler über einem, der dir mit kehlig Knarz sein Kompliment für deinen ansehnlichen Sportsgeist zuruft. Des Adlers um dich zirkulierender Schatten im Schnee signalisiert dir untrüglich: ein Aug‘ hat auf dich geworfen, der Greif! Greifen würd‘ er sich gern ein lecker Häppchen von dir. Die meisten werden sich an dieser Stelle natürlich an Prometheus erinnern,

jenen Naturfreund, der einst bei Zeus in Ungnade fiel und vom Göttervater an eine Felswand geschmiedet wurde, wo ihn regelmäßig ein Adler aufsuchte, um sich an Prometheus’ Leber zu laben. Die Story entstammt der griechischen Mythologie, ist aber immer wieder spannend und bis heute brandaktuell, da sie auf die vielen ungeahnten Gefahren hinweist, die im Gebirge und auch sonst im Leben so alles passieren können.

Für die wenigen, die sich nicht mehr erinnern können, keine Panik, die Story hat ein Happy-End: Nach etlichen Tagen und reichlich Leberbissen durch den hungrigen König der Lüfte, kam Freund Herakles, Freelance Hero, Founder and Copyright Holder of the Original Olympic Games des Weges.

Kraft seiner Bestimmung als konsequenter Troubleshooter zückte Herakles seinen Bogen, erlegte den Adler mit einem Pfeil und erlöste Prometheus von seiner Pein. Ob soviel heldenhaften Einsatzes drückte Zeus noch mal ein Auge zu, begnadigte Prometheus und schenke ihm seine Freiheit wieder.

Ob Herakles damals auf Tourenski unterwegs war und seinen Bogen im stylischen Heimathafen Hamburg-Rucksack…

… samt hipper Gletscherbrille trug, ist nicht direkt überliefert – aber durchaus vorstellbar. Was jedoch ganz sicher ist: Tourenski ist nur was für die, die sowieso ziemlich gut Skifahren können, wie Herakles grundsätzlich fit sind, kaum bis kein Hüftgold mit sich tragen und einen Hang zu unbetretenem Terrain und positiven Engagement im Allgemeinen haben.

Sportliche Herausforderung, technische Finesse kombiniert mit purem Naturerleben macht den besonderen Reiz an Skitouren, derer sich auch Freund Gebhard gerne mit Herrn Papa als wegweisende Influencer beweisen. Fernab von Pistentrubel und Hütten-Halli-Galli. Dafür in paradiesischer Abgeschiedenheit der Bergwelt.

Der Aufstieg zum Gipfel erfolgt nicht per Lift, Seilbahn oder Heli – sondern nur aus reiner Körperkraft. Gute bis sehr gute Kondition natürlich vorausgesetzt. Ebenso die richtige Ausrüstung. Tourenski sind kürzer als normale Ski. Besonders im Tiefschnee erfährt man dadurch einen deutlichen Vorsprung an Wendig- und Schnittigkeit. Zudem sind Tourenski durch heutige High-Tech-Materialien sehr, sehr leicht. Tourenski haben eine spezielle Tourenbindung. Beim Aufstieg ist der Skistiefel nur vorne an der Bindung fixiert, die Ferse jedoch nicht.

Also: „Immer locker! – unter der Hose“. So ist die Bewegungsfreiheit gewährleistet, um den Ski bergauf vor sich her zu schieben. Um beim Aufstieg am Hang nicht nach hinten wegzurutschen, sind die Unterseiten der Ski mit Fellen bespannt.

Das heißt, nach vorne gleitet das Fell über die natürliche Laufrichtung der Haare. Will der Ski nach hinten rutschen, sträuben sich die Haare auf, verkanten sich im Schnee und stoppen so den Rückwärtsgang. Mein kluger Kollege Matthias aus dem Bayerischen, seines Zeichens noch kein Tourenskifahrer, wusste sogleich: „Verstehe! – di son so zum sogn gegen‘n Strich g‘bürstet“. Vorsprung durch Technik eben. Haarige Technik. Und wie so oft im Leben: Powered by Nature.

Sind Höhen oberhalb der Baumgrenze erreicht, die wegen steiler Felspassagen per Ski nicht zu bewältigen sind, werden die Skier abgeschnallt, geschultert und gegebenenfalls geworfen, um kletternd die nächst höheren Felssprünge zu erreichen. Solange bis das Ziel des höchsten Punktes am Berg erreicht ist.

Puh! – ganz oben angelangt. Jetzt erstmal Pause. Und die einzigartige, meditative Begegnung mit der Natur genießen. Momente, die einen in sich gehen – und wahre Bewunderung wie Ehrfurcht vor den Urgewalten des Lebens spüren lassen. Sollten wir nach soviel Genuss von Dankbarkeit, Seelenheil und Lebensfreude bereit sein, die Belohnung all der Strapazen des Aufstiegs entgegenzunehmen?

Wenn ja, dann sind wir jetzt eingeladen! Eingeladen, um neue Grenzerfahrungen samt körperlicher und seelischer Freuden der Maximal-Dosis zu erfahren. Die Felle werden wieder abgenommen und in den Rucksack gepackt. Ski-Bindungen hinten wieder fixiert und in den Abfahrtsmodus umgestellt. Vorher bitten wir den Herrn um Beistand, Heilung, Wegweisung. Dann brechen wir neu auf.

Und stürzen uns ins eigentliche Vergnügen: Auf jungfräulichem Schnee wieder runter ins Tal. Herrlich. Die Abfahrt ist das Ziel. Das Licht des Lebens erstrahlt in völlig neuen Farben. Wir brettern über unendliches Weiß, durchfurchen ungeahnte Hänge, fegen über Felsvorsprünge, preschen um Ecken und Kanten, tauchen in die Tiefe verschneiter Tannen, schießen über des Winters kristallene Pracht. Wusch! – bleibt mein Ski bei voller Fahrt unter dem zugeschneiten Ast einer Gebirgstanne hängen.

Ein schmerzhafter Schlag, reißt mir die Beine auseinander. Die Bindung löst beide Ski. Abflug– und der geht erstmal per Luftlinie weiter. Ja mei, denk‘ ich mir, grad‘ in verfahrenen Situationen muss man einfach optimistisch immer das Positive sehen. Also genieße ich, wie ich so gen Tal segle, den schönen Rundum-Ausblick auf Berge, Felsen, Bäume, Tal, Berge, Felsen, Bäume Tal… Schneeverwehungen natürlich auch. Vor allem die, die ich selber bei der Landung auf blütenweißem Terrain verursache. Ich überschlage mich, poltere, purzle, kollidiere hier, knalle dort dagegen.

Geschüttelt oder gerührt – oder gar beides – ich weiß es nicht mehr genau – lieg‘ ich eiskalt auf der Fresse. Dazu unendlich viel Schnee in Mund, Hals, Nase, Ohren. Etwas benommen hoffe ich, dass nichts gebrochen, gerissen oder geplatzt ist. Die Schneewolke, die mein Sturz verursachte, gibt allmählich wieder die Sicht um mich herum frei. Einmal mehr musste ich lernen:

Gebhard fährt einfach besser Ski als ich. Echte Söhne der Berge sehen Gefahren eben auch wenn sie zugeschneit sind. Aber egal, Hauptsache, alles noch heil. Und cool ausgeschaut hat’s bestimmt auch. Gebhard hat mittlerweile zu mir aufgeschlossen und bestätigt meine Vermutung des impact-starken Eindrucks meines kleinen Intermezzos. Dann hilft mir Gebhard im Tiefschnee meine untergetauchten Ski zu orten. Trotz Skistopper können die Teile ja wie Torpedos durch den Pulverschnee jagen.

Von der Sturzstelle ausgehend Richtung Tal durchpflügen Gebhard und ich mit den Skischuhen pendelnd den überhüfthohen Schnee. In der Hoffnung, auf Wiederstand – also die ausgebüchsten Ski – zu treffen. Unsere parallel verlaufenden Koordinatenlinien im Schnee zeichnen ein Bild bewährter Skistiefel-Ski-Peilung in der menschenleeren, winterlichen Gebirgslandschaft, abseits jeglicher Zivilisation. Nach einem halben Stündchen sind die Ski gefunden. Und: Klack! Klack! – wieder angeschnallt.

Packmas Buam! – weiter geht’s, das Tal ruft! Doch plötzlich… Wir hören eine Stimme – und schauen uns verwundert an. Ist das Gott? – der uns zu Besonnenheit und Respekt vor den Tücken des Gebirges mahnen möchte. Oder Luis Trenker jun.? – beim Dreh von „Der Berg ruft II“. Nein! – es ist eine Frauenstimme. Ein wenig krächzend, dafür um so nativeren Dialektes. Wir sehen uns um. Ein paar Meter weiter im Hang entdecken wir ein keines Hexenhäuschen – im Hexenhäuschen entdecken wir ein Hexenhäuschen-Fensterchen – im Hexenhäuschen-Fensterchen entdecken wir ein…

Na, was könnten wir da wohl entdeckt haben? Im Hexenhäuschen-Fensterchen winkt eine hübsche, jüngere Dame um die 80. Und die rief uns so etwas zu wie: „Ob wir vielleicht Hilfe brauchen könnten?“ Dass hier mitten im Gebirgshang außer uns menschliches Leben zu finden ist, ließ uns ziemlich verwundern. Aber, da ja sonst alles ok war, bedanken wir uns höflich für das hilfsbereite Angebot.

„Ob wir denn nicht zumindest auf a Schnäpsle einkehren wollen? Gebhard und ich schauen uns erneut an. A Schnäpsle? – nach all den Strapazen! Ja, eigentlich haben wir‘s uns verdient: a Schnäpsle. Also wieder raus aus den Ski. Wir schultern sie, stapfen rüber zum Hexenhäuschen. Ja! – Gedanken zu Hänsel und Gretel samt unseres Schicksals als Hexenschmaus waren durchaus gegeben. Doch Kraft und Versuchung des Schnäpsles waren stärker. Wir lehnen die Ski ans Knusper-Knusper-Häuschen, klopfen ordentlich die Skistiefel ab und treten ein in die gute Stube.

Boah! – war das eine Hitze. Mehr als drei mal drei Meter wird der Grundriss nicht gehabt haben.

Doch drinnen alles, was man zum Leben braucht. Ein Bollerofen, der bollert, was das Zeug hält, ein Tisch, ein paar Stühle, diverse Regale, ein Herd, eine Leiter hoch zu den Schlafgemächern unterm schrägen Dach – und eben Schnäpsle! Dann war da noch eine zweite junge Dame, die wie sich herausstellt, die Tochter aus Wien ist, die ihre Mutter öfters in ihrem Häuschen in den Bergen besucht, um vom Großstadt-Trubel abzuschalten. Alles irgendwie unwirklich, märchenhaft, aber auch super spannend.

So kam es, dass aus dem Schnäpsle zwei Schnäpsle wurden. Und weil das Schnäpsle nach dem Schnäpsle ja bekanntlich am besten schmeckt, genossen wir die wohl abgefahrenste Hüttengaudi ever. Stimmung lustig. Ofen heiß. Schnäpsle immer besser.

Irgendwann wurde es philosophisch: Uns ging durch den Kopf, dass wir ja nicht allein sind auf der Welt. Sondern, dass es da draußen auch Partnerinnen und Freunde gibt, mit denen wir in Österreich zum Skifahren sind. Auch, wenn nicht alle unsere Ambitionen hegen, Berge per Ski zu erklimmen, könnten sich die anderen vielleicht Sorgen machen, wenn man selber stundenlang im Gebirge verschollen bleibt. Vor allem wenn man die Absicht hat, dort abzufahren, wo sonst noch keiner gefahren und es besonders schön – schön gefährlich ist. Dass uns nur eine harmlose Schnäpsle-Degustation in die Quere gekommen ist, kann ja keiner ahnen.

Also begrüßen wir es, uns wieder zu verabschieden – natürlich nicht, ohne noch ein letztes Abschieds-Schnäpsle serviert bekommen zu haben. Wir drückten erst die beiden entzückenden Gastgeberinnen – dann ihnen unseren Dank aus und machten uns von dannen.

Dank der außerplanmäßigen, medizinischen Betreuung war die restliche Abfahrt jetzt noch unbeschwerter. Zugegeben, in unbefahrenem Gebirgsterrain kann man sich leicht verirren. Und das haben wir. So deutlich wie wir von der geplanten Route abgekommen sind. Als wir dann trotzdem nach Stunden Verspätung den Weg wieder zurück zu unserem Basis-Camp fanden, hatte meine Freundin Lisa schon die Bergwacht alarmiert…

Die Rotoren der Rettungshubschrauber drehten sich schon. Das gab ein Krach. Nicht wegen des Hubschraubers. Wegen unserer Unbedachtsamkeit. Völlig zu Recht, wie ich heute meine. Schließlich ist man nicht nur ausschließlich freiheitsliebendes Individuum – sondern eben immer auch Teil des Ganzen. Der Partnerschaft. Des Freundeskreises. Der Gesellschaft. Der Menschheit. Diese Geschichte, die dabei heraus kam, könnte uns auch in den heutigen Tagen zu denken geben. Denn:

  • Mehr nachdenken ist grundsätzlich nie verkehrt.
  • Schäpsle kann, muss aber keine Lösung sein.
  • In jedem Desaster steckt immer auch was Positives.
  • Überraschende Wendungen sind nie ausgeschlossen.
  • Sein Umfeld zu achten ist besser als nur eigene Ego-Pflege.
  • Man kann sich immer mal (ver)irren, sollte aber draus lernen.
  • Die Natur zu ehren ist besser als Schindluder damit zu treiben.
  • Seinen Beitrag zum Leben leisten ist cooler als Viren übertragen.
  • Auch auf drei mal drei Metern kann man sich’s gemütlich machen.
  • “Verantwortung“ ist leider zum Werbe-Buzzword verkommen. Doch wir könnten‘s wieder ändern! Denn nie war es einfacher als heute, verantwortungsvolle Heldentaten für die Allgemeinheit zu vollbringen:

         Einfach zu Haus bleiben! Und keine Viren transportieren!

Sam Lazay

lebalcony.de – coole Typen, Stories aus der Quarantäne bis darüber hinaus.

 

Titelfoto: eine Meisterin ihres Faches, Name noch immer unbekannt

Ölgemälde Prometheus: Jacob Jordaens, Antwerpen

Fotos Alpin-Stillleben: Susanne Häusler, Hamburg

Anhang:

Fakten sind der Rohstoff coolen Storytellings. Was gerade in Zeiten der Reizüberflutung beweist, wie entscheidende, dramaturgische Elemente den Impact noch weiter stärken.

Ein Glück, dass mich Freund Gebhard gestern telefonisch rüffelte, in der Schilderung jener legendären Abfahrt einen wesentlichen Faktor völlig außer Acht gelassen zu haben… Als er ihn mir verriet, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Ja klar! – jenes zugeschneite Hexenhäuschen haben wir damals beide im Glauben an einen verwehten Felsvorsprung als Rampe für einen weiteren schönen Sprung in den Tiefschnee genutzt. Wie unseren Spuren eindeutig zu entnehmen war.

Die Begegnung und spätere Einkehr bei den beiden Gebirgsmädels ist mir noch heute so präsent als wenn es gestern gewesen wäre. Nur dass wir ihnen vorher ohne es zu merken übers Dach gebrettert sind, habe ich vollkommen vergessen. Welch Segnung, dass Gebhard so ein aufmerksamer Beobachter ist.

Gebhard sei hiermit die Alpinisten Ehren-Medaille für korrekte Retrospektiven verliehen.

Und nur die wenigsten wissen, dass Gebhard zur Verteidigung unserer freiheitlichen Grundwerte auch immer wieder gerne als Stunt-Double für Geheimagenten und anderer Würdenträger einen coolen Sprung riskierte.

Hier: „For your eyes” only mit Roger Moore von 1981. Eine Dokumentation souveräner Haltung und skifahrerisches Stehvermögen abseits des präparierten Pisten-Mainstreams.