Hamburg. Winterhude. Feierabend-Bierchen. In meinem Lieblings-Auto-Magazin Classic-Driver entdecke ich einen Gebrauchtwagen älteren Baujahrs. Kostenpunkt: 1,3 Millionen Euro. Ja. Nicht grad günstig, aber um so interessanter. Für antike Schüsseln so viel Geld hinzulegen, beweist, wie wertvoll heute traditionelle Werte sind. Und wie wichtig der Markt für historische Leistungen ist. Genauer gesagt handelt es sich bei dem Geschirr um einen Lamborghini Miura. Baujahr 1967.

Ich gebe zu, bei dem Namen und Datum ein breites Lächeln nicht verkneifen zu können. Damals war ich 6. Hab‘ mit meinen Freunden Baumhäuser gebaut. Und Schanzen für Fahrrad, Schlitten und alles, was sich sonst zügig fortbewegen lässt. Zur Mutprobe sind wir auf der Wiese vor unserem Wohnblock auf riesigen Kuh-Monstern geritten. Ja, im Vergleich zu uns waren sie schon monstös groß, die Kühe. Brutal relaxed allerdings auch. Das war den Viechern so was von kuhfladen-egal, ob da ein Fliegengewicht von Sechsjährigem auf ihrem Rücken einen auf John Wayne machte oder nicht.

Jene Kuhbesteigungen muss ich an dieser Stelle hervorheben,

 

um die Kurve von den Kühen zum Stier und damit zum Lamborghini-Logo hinzukriegen.

Meine Mutter hat täglich die Waschmaschine angeschmissen, weil ich mehrmals am Tag total verdreckt nach Hause kam. Aus dem Wald. Vom See. Von der Baustelle. Vom Bolzplatz. Oder aus irgendeinem Kanalrohr.

Autoquartett haben wir gespielt. Eigentlich ein ziemlich dämliches Spiel. Bei dem einen oder anderen allerdings heute noch immer von höchster Bedeutung: Wer hat am meisten PS, Zylinder, ccm und kommt am schnellsten?

Absoluter Champion im Autoquartett damals war der Lamborghini Miura: 350 PS, 12 Zylinder, 3,9 l Hubraum, 280 km/h Spitze. 1967 wohlgemerkt!

Du hast sie alle ausgestochen mit dem Miura auf der Hand. Bis heute unvergessen, als wir damals mit den Fahrrädern zurück vom Bolzplatz kamen und uns dem Wohnblock in unserer Straße näherten. Schon von weiter Distanz merkten wir, irgendwas stimmt da nicht.

Der orangene Fleck in der Reihe der geparkten Autos vor unserem Haus war auffallend ungewöhnlich. Kein Mensch fuhr damals orangefarbene Autos. Zumindest nicht in unserer Gegend. Dann auch noch so außergewöhnlich flach. Je näher wir uns dem unbekannten Farbobjekt näherten, desto größer wurde die Spannung. Wie hypnotisiert schwebten wir der Novität entgegen. Um uns mit offenen Mündern fragend anzuschauen:

 

Was ist das??? Jürgen (der große Blonde mit dem hellen Hemd), Bruder von Rainer (der Blonde mit dem Streifen-T-Shirt) und der älteste von uns allen konnte damals am besten lesen. Nach Sichtung des Typenschildes konnte uns Jürgen glaubhaft versichern, dass es sich hier wahrhaftig um einen Lamborghini Miura handelt. Zwischen all den grauen VW, weißen NSU Prinz und beigen 200 D.

Boah!!! – Wahnsinn! Wir waren sechs, Jürgen sieben. Wir haben den Lambo von allen Seiten bewundert, ihn rundum aufgesogen, gestreichelt und festgestellt, dass die Türen offen waren!

Nochmals Boah!!! Also nichts wie rein! – in die gute Stube des Boliden. Es gab heftige Rangeleien, wer hinterm Lenkrad sitzen darf. Und die Schaltung, so butterweich, allererste Sahne. Wir hatten zwar keine Ahnung, in welchen Gängen wir gerade rührten. Aber die Getriebeabstimmung muss großartig gewesen sein. Gerade die oberen Gänge, perfekt abgestimmt für Le Mans, Imola und Monza.

Eben ein Renner für Kenner, dieser Miura. Gefühlte Ewigkeiten turnen wir in dem Lamborghini rum. Bis wir in dem blitzschnellen Geschoss, wie von ebensolchem getroffen, andächtig erstarren. Durch die Frontscheibe sahen wir unverkennbar, dass ziemlich großer Ärger – zumindest deutlich über 1,80 – auf uns zukommt.

Ein uns unbekannter Kerl trat aus unserem Wohnblock heraus und hält Kurs auf jenen Lambo, den wir gerade okkupieren.

So speziell das Mobil, so extravagant der Fahrer. Dass die beiden zusammengehören war klar wie Muttis Nylons. Der Herr brilliert durch schwarze Lockenpracht und eine verspiegelte Sonnenbrille. Seine Halsketten unter seinem offenen, weißen Hemd funkeln und glitzern wie die Casinotür des Four Queens in Las Vegas.

Doch der Hammer: seine Schlaghosen. Mehr ging nicht: Oben knalleng. Unten wie die wehenden Flaggen des Halbseidenen – seine Jeans aus Samt! So lässig wie zielstrebig kommt er näher. Dass wir da alle gerade in seinem Lambo rumtollen, kann er von außen nicht übersehen haben.

Er öffnet die Tür – zu seinem! – Auto. Und lässt einen Schwall einer uns damals unbekannten Sprache auf uns niederprasseln. Heute wissen wir, es war italienisch. Wir verstanden kein Wort. Signore Samthose schien das nicht unbemerkt. Man bedenke, wir waren Kinder, haben uns unrechtmäßig Zutritt zu seiner, damals heißesten Kiste des Universums verschafft. Und er, ein langhaariger Alien in Samt und Seide textet uns mit komplett unverständlichem Singsang zu.

Heute würde man denken, ok, das war’s! Der fährt uns jetzt gleich direkt zur Kleinkinder-Verwurstung.

Doch jetzt wird’s spannend. Nachdem alle verbalen Probleme der Verständigung ungeklärt blieben, schaffte es Häuptling Samthose uns per Zeichensprache echt cooles, italienisches Dolce Vita zu vermitteln.

Und das ging so: insgesamt waren wir zu sechst. Drei von uns sollten im Wagen bleiben. Einer vorne. Zwei auf den Notsitzen hinten. Dann stieg der Typ in den Lambo, zündete seine Höllenmaschine und bretterte mit uns einmal volle Kanne ums Karree.

Mein Gott, wie abgefahren… War das geil, obwohl ich das Wort damals noch nicht kannte. Dann waren die anderen drei dran. Das gleiche Programm: Leuchtende Augen, klopfende Herzen: Wromm, Wromm, Zwischengas, Quietsch, Um-die-Ecken-Pfeiff, Lambo, Yeah… Was für ein Spaß. Der Typ wurde uns immer sympathischer.

Doch dann: das Gefühl, wie auf dem Rummelplatz, wenn es heißt: aus die Fahrt! Und Arrivederci! Wer immer unser Rennfahrer auch gewesen sein mag, er brauste davon. Wir verfolgten noch die Spur seines herrlichen Lärmpegels als er im Straßengewirr unserer Siedlung verschwand – und rund einen Kilometer weiter entfernt als Minipunkt wieder in unserem Sichtfeld auftauchte.

Er stand an der Ampel des Gerlinger Buckels, der Verlängerung der Leonberger-Straße, jenem sagenumwobenen Autobahnzubringer, zu dem alle meine Kindheitsfreunde, besonders Gerd mit seiner Hayabusa, bis heute die eine oder andere Anekdote erzählen können. Trotz des Kilometers Entfernung konnten wir den orangenen Lambo von unserer Siedlung aus sehen und glaubten, den Zwölfzylinder im Standgas vor sich hingrummeln zu hören.

Dann. Die Ampel springt auf grün. Der Lambo nach vorne. Unüberhörbar, erst einen Bruchteil später* heult der Motor auf und katapultiert Lambo samt Hose mit einem Affenzahn den Gerlinger Buckel hoch. Jeder einzelne Gangwechsel ein herrliches Solo in der Symphonie des zügigen Verkehrsflusses. Die Maschine kreischt lauter als sein orangefarbene Lack.

Bis der Lambo ins dichte Grün des Schwäbischen Forstes eintaucht und zurück gen Italien entfleuchte.

Was es genau mit dem mysteriösen Besucher bei uns im Haus auf sich hatte, klärte sich einige Tage später. Eine Mitbewohnerin unseres Hauses hatte den Herrn mit dem schnellen Gefährt beim Strandurlaub in Jesolo kennengelernt. Man sagt, die Dame wäre sehr, sehr attraktiv gewesen.

Als Sechsjähriger konnte man das noch nicht so eindeutig beurteilen. Für mich war in dem Alter meine liebe Frau Mama die Benchmark aller Schönheitsideale. Doch schon als Kinder spürten wir, dass besagte Nachbarin durchaus von außergewöhnlicher Erscheinung war, etwas Besonderes, von ganz spezieller, betörender Anmutung. Zeigten sich doch viele andere Nachbarsfrauen bevorzugt im rein funktionalen, eher unauffälligen Kehrwochen-Outfit (wie z.B. Frau B. vorne, unten links im Bild).

Allen außerhalb des Ländles, denen „Kehrwoche“ kein Begriff ist: Kehrwoche ist ein Jahrtausende lang gepflegtes Schwäbisches Gut der Hochkultur zur Wahrung von Sauberkeit und Glanz und Reinheit in gemeinschaftlich genutztem Wohnraum. Sprich Treppenhaus, Zugänge und Gehsteige ums Haus.

Wie das Smartphone kann aber auch die Kehrwoche, den einen oder die andere in den Bann eines völlig entarteten Suchtverhaltens ziehen. Kann vor reiner Fokussierung auf nur die eine Sache folgenschwere Abhängigkeit mit sich bringen.

Kann. Wie hier in der Dokumentation eines früheren Landsmannes von mir eindrucksvoll belegt:

 

https://www.youtube.com/watch?v=uFdvvrSp-IM
 

Grundsätzlich ist die Kehrwoche keine dumme Erfindung. Würde sie heute in mancher Großstadt der Schickimicki-Vermüllung doch deutlich mehr Einhalt gebieten:

Pamela & Claas. Zwei Supertypen räumen auf. Unser Winterhude.

 

* Mein famoser Daddy, der auch das feine Titelfoto dieses Artikels schoss, erklärte uns später, warum wir den Start des Lambos zuerst gesehen und dann gehört haben. Heute weiß das vermutlich nicht nur meine schlaue Ingenieurin und Nachbarin oder meine patente Ex. Aber, vielleicht wird lebalcony.de ja auch von den Kleinen gelesen.

Also, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht: das Licht, das uns die sichtbaren Bilder des Lebens ins Auge überträgt ist ziemlich schnell.

Genauer gesagt: 1.079.251.200 km/h. Ausgesprochen heißt das: eine Milliarde, 79 Millionen, 251 Tausend, 2 Hundert Stundenkilometer. Was schnelleres ist in unserem gesamten Universum noch nicht gemessen worden. Bis auf Lucky Luke. Der schießt schneller als sein Schatten, sprich: das Licht. Aber von dem hat man auch lange nichts mehr gesehen und erst recht nicht gehört.

Mit schlappen 1.236 km/h ist die Schallgeschwindigkeit dagegen eine echt lahme Ente. So passiert es, dass man aus einem Kilometer Entfernung erst sieht und dann hört, was passiert. Das Licht ist dabei circa eine Million mal schneller als der Schall. Und damit, zum großen Entsetzen aller schwäbischen Ingenieure, leider auch schneller als jeder Zuffenhausener.

Aber Porsche arbeitet daran:

Porsche 718. Zwei flogen aus dem Blasorchester.

 

 

 

Sam Lazay

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